Ehemalige Glücksspielsüchtige berichten 55.000 Euro im Online-Casino gewonnen - und trotzdem nicht glücklich

Jemand spielt Glücksspiel auf dem Smartphone (nah)

Der eine ruinierte sich durch seine Glücksspielsucht finanziell und wurde depressiv. Der andere gewann viel Geld in Online-Casinos und wurde trotzdem nicht glücklich. Hier schildern sie ihren langen Weg aus dem Teufelskreis der Spielsucht.

Von Tobias Weiler-Mattes

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Audio 07:20 Min. |

Expertengespräch zu Glücksspielsucht

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Symbolbild: Auf einem Handydisplay ist das Menü eines Online-Casinos zu sehen.
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Wenn er spielt, verschwindet alles um ihn herum, es gibt nur ihn und den Automaten. Im Rausch sitzt Klaus Müller* stundenlang in der Spielhalle und wirft Geldstücke in den Schlitz. Er vergisst zu essen und zu trinken, denkt nicht daran, ob er die Miete seiner Wohnung noch bezahlen kann.

"Ich würde das als einen leeren Raum bezeichnen", sagt der heute 66-jährige Wiesbadener: "Wenn kein Geld mehr da ist, fängt der freie Fall an." Erst dann begreift Müller, dass er gerade viel Geld verloren hat. Sein höchster Verlust an einem Tag: rund 1.500 Euro. "Da hatte ich den Eindruck, als ob mir jemand einen Baseball-Schläger über die Rübe gezogen hätte."

Stefanie Höft vom Suchthilfezentrum Wildhof in Offenbach kennt auch Klientinnen und Klienten, die 300.000 Euro Schulden haben. Bei solch hohen Beträgen sei der Bezug der Spielsüchtigen zum Geld völlig verloren gegangen. Oft fange eine Spielsucht in ganz belanglosen Situationen an. Wenn Jugendliche zum Beispiel beim Dönerholen das Wechselgeld in den im Laden hängenden Spielautomaten werfen, sagt Höft: "Wenn dann dummerweise aus einem gleich 50 Euro werden, macht das natürlich große Lust weiterzumachen."

Von 100 Spielern werden 30 abhängig

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Christian Peters aus Marburg* wirft mit 19 zum ersten Mal zwei Euro in einen Spielautomaten. Und gewinnt gleich 100 Euro. "Da war es um mich geschehen", sagt der heute 30-Jährige. Er spielt in den folgenden Jahren regelmäßig in einem Online-Casino an virtuellen Automaten. Peters gewinnt mal 800 Euro, mal 2.000 Euro und verliert sie wieder. 2014 wird ihm klar, dass er spielsüchtig ist.

Geldspielautomat, Nahaufnahme, Mann wirft Münze in Geldschlitz

"Im Belohnungszentrum des Gehirns passiert beim Spielen am Automaten im Grunde genau das gleiche, wie wenn jemand Speed konsumiert oder Alkohol trinkt", sagt Suchtberaterin Stefanie Höft. Studien belegten, dass von 100 Leuten, die über einen gewissen Zeitraum an Automaten spielten, 30 abhängig würden. Wie die Expertin darlegt, werden durch die Spannung bei jedem Spielvorgang Dopamin und Adrenalin ausgeschüttet. Das Gehirn werde ständig befeuert. Lotto sei dagegen eine stinklangweilige Angelegenheit.

Am dritten oder vierten Tag des Monats schon pleite

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Student Peters verschweigt seiner Freundin Juliane seine Sucht. Sie merkt es erst, als er nach einem sehr hohen Gewinn auf einmal mehr Geld ausgibt, als es das Gehalt seines Nebenjobs erlaubt. "Irgendwann habe ich 35.000 Euro gewonnen", erzählt er. Es ist Anfang 2019. Er gesteht seiner misstrauisch gewordenen Freundin, dass er spielsüchtig ist. Ab da geht Christian Peters zur Suchtberatung.

Klaus Müller ist bereits Mitte 50, als er beginnt, exzessiv zu spielen. Er kommt mit der Scheidung von seiner Frau nicht klar, hat Stress auf der Arbeit. Am Automaten sucht er Ausgleich und Entspannung. Doch er verliert die Kontrolle. "Wenn ich am Ersten des Monats Gehalt bekommen habe, wusste ich stellenweise am Dritten oder Vierten nicht mehr, was ich essen sollte." Innerhalb von fünf Jahren verliert Klaus Müller rund 20.000 Euro durch Glücksspiel.

Suizidrate bei Glücksspielsüchtigen stark erhöht

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Wegen der hohen finanziellen Verluste ist Spielsucht besonders gefährlich, sagt Stefanie Höft vom Suchthilfezentrum Wildhof in Offenbach. Die Expertin betont: "Bei Glücksspielerinnen und -spielern ist die Suizidrate noch mal drei- bis viermal so hoch wie unter anderen Abhängigen."

Geldspielautomat nah, mit Mann (hält sich die Augen zu)

Um ihn am Spielen zu hindern, bekommt seine Freundin Juliane Christian Peters Konto-Zugangsdaten, kann so kontrollieren, ob er Geld für Glücksspiel ausgibt. Allerdings hat Peters selbst auch Zugriff auf sein Konto. Nach einem halben Jahr beginnt er wieder zu spielen. Erst mit 100 Euro, dann werden es mehr.

Seine Freundin vertraut ihm, schaut nicht nach, wie es um seine Finanzen steht. Das Geld verschwindet, denn Christian Peters ist wieder im Rausch, zockt heimlich ganze Nächte durch. So sind im Frühjahr 2020 von den gewonnenen 35.000 Euro nur noch gut 5.000 Euro übrig.

Kein Geld für Geburtstagsgeschenke der Kinder

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In Hessen gibt es 31.543 Menschen mit einer Glücksspielproblematik - das ergab die jüngste Repräsentativerhebung im Jahr 2019. Fast die Hälfte davon sind pathologisch Spielende. Bei dieser Erhebung zählte die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung deutschlandweit 429.000 Menschen, die Probleme mit Glücksspiel hatten.

Klaus Müller ist jetzt ständig knapp bei Kasse. Es ist 2014. Er leiht sich Geld bei Freunden, zahlt es nicht zurück. Die Freundschaften zerbrechen. Müller häuft Schulden an. Seine Kinder im Teenager-Alter wundern sich, warum ihr Vater kein Geld hat, um ihnen Geschenke zum Geburtstag zu kaufen. Er bekommt Panikattacken, wird depressiv, ist nicht mehr in der Lage, arbeiten zu gehen. Er verliert den Job und seine Wohnung. Klaus Müller zieht die Reißleine.

In zehn Minuten 10.000 Euro verloren

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"Die Einsätze waren absurd", berichtet Christian Peters: "Ich habe teilweise mit jeder Drehung am Automaten 100, 200 Euro verspielt." Manchmal habe er in zehn Minuten 10.000 Euro verloren. Seiner Freundin erzählt er, dass er nicht spielt.

Peters verliert sehr viel, weil er sehr viel einsetzt. Aber er gewinnt auch: Im Spätsommer 2020 sind durch das riskante Zocken mit hohen Summen wieder unglaubliche 55.000 Euro auf seinem Bankkonto. Sein großes Glück ist allerdings nicht der enorme Gewinn. Christian Peters' Glück ist seine Freundin, die jetzt durch Zufall eine an ihn gerichtete Mail eines Glücksspielanbieters liest und ihn damit konfrontiert.

Nach der ersten Therapie wird Müller rückfällig

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Klaus Müller hat die Reißleine gezogen, aber der rettende Fallschirm ist nicht aufgegangen. Eine Therapie im Jahr 2014 scheitert. Müller findet keinen Arbeitsplatz, kann seine Rechnungen nicht zahlen. Durch den finanziellen Druck wird Klaus Müller rückfällig. Zwei weitere Jahre spielt er - immer in dem Glauben, er werde genug Geld gewinnen, um die Schulden zurückzahlen zu können. Doch das passiert nicht.

Müller fühlt sich widerlich, wie er sagt. 2017 hält er es nicht mehr aus. "Da bin ich auf den Brustwarzen zur Suchtberatung hin und habe darum gebeten, wieder eine Therapie zu beantragen." Müller darf noch einmal für zwölf Wochen in eine Klinik gehen. Es ist vielleicht seine letzte Chance.

Ob Gewinn oder Verlust: Er ist immer angespannt

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Christian Peters gesteht seiner Freundin jetzt alles: Ja, er hat wieder gespielt, exorbitant viel Geld verloren und wie durch ein Wunder umso mehr gewonnen. Gut fühlt er sich trotzdem nicht, wie er sagt: "Egal ob ich gewinne oder verliere, ich bin immer angespannt. Weil es auch nie vorbei ist."

Eine Online-Session am Automaten zu unterbrechen, fällt ihm schwer, auch wenn er zum Beispiel 5.000 Euro gewonnen hat. Er müsse weitermachen, gesteht Peters: "Ich denke mir, vielleicht werden aus den 5.000 Euro ja dann 7.000 oder 10.000 - und dann sind es 0. Und dann geht es mir richtig schlecht."

Mann mit mehreren hundert Euro Scheinen vor Spielhalle

Ein Ausweg aus so einer Situation kann sein, sich in einer der 15 hessischen Fachberatungen für Glücksspielsucht beraten zu lassen. Die Hessische Landesstelle für Suchtfragen weiß von rund 1.300 Betroffenen, die sich im Jahr 2020 auf diese Weise Hilfe geholt haben. Die Klientinnen und Klienten seien im Schnitt 36 Jahre alt. Bei 76,8 Prozent habe sich das Spielverhalten positiv verändert.

An eine Therapie traut Peters sich noch nicht

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Christian Peters will noch keine Therapie machen. Der 30-Jährige befürchtet, es könnte seiner beruflichen Laufbahn schaden, wenn das herauskäme. Zusammen mit seiner Freundin hat er es aber geschafft, seit einem Jahr spielfrei zu sein. Er hat keinen Zugriff mehr auf seine Konten, seine Freundin Juliane kontrolliert die Finanzen. Peters sagt: "Ich versuche, mir das Spielen so schwer zu machen wie möglich."

Aber Peters hat Angst, dass nur wenig passieren muss, damit er wieder zu spielen anfängt. Er weiß: Die Versuchung und der Druck zu spielen sind groß. "Die Emotionen, die Glücks- oder die Stressgefühle, die dabei entstehen, sind bei mir so unglaublich stark, wie ich das bei keiner anderen Sache jemals in meinem Leben erfahren habe."

Müller hat seine Lebensfreude zurückgewonnen

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Um nicht wieder im alten sozialen Umfeld rückfällig zu werden, ist Klaus Müller nach seiner zweiten Therapie in eine kleine Stadt im Süden Deutschlands gezogen. Dort hat er sich seinen Lebenstraum erfüllt und ein Atelier angemietet, in dem er malt. Der 66-jährige Rentner stellt seine Bilder aus, hat auch schon das eine oder andere verkauft. "Das gibt mir mehr, als mich an irgendeinen Automaten zu stellen."

Freunde, die sich distanziert hatten, seien wieder da. Der Kontakt zu seinen Kindern sei ungebrochen, sagt der Wiesbadener. Seine Familie habe in der schweren Zeit zu ihm gehalten. "Was ich verloren hatte?", fragt Müller: "Die Selbstachtung." Und gewonnen? "Alles", ruft er mit einem erleichterten Lachen.

Klaus Müller hat den Kampf gegen seine Spielsucht gewonnen, wie es aussieht. Seit vier Jahren ist er spielfrei. Der 66-Jährige ist sich heute der Gefahr des Glücksspiels bewusst: "Ich weiß, es ist nur ein einmaliger Kick. Es kostet eine Existenz - es kostet stellenweise das Leben."

* Um ihre Anonymität zu wahren, sind Namen und Teile der Vita der beiden Männer geändert.

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Hilfsangebote zur Suizidprävention

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Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und auch geheilt werden. Hier finden Sie Hilfsangebote für Betroffene und Angehörige.
Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenfrei und anonym erreichbar unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer: 0800/1110111 oder 0800/1110222.
Um die Anonymität der Anrufer zu wahren, ist die Übermittlung der Rufnummer gesperrt und wird somit in keinem Display der Telefonseelsorge angezeigt. Anrufe bei der Telefonseelsorge werden auch im Einzelverbindungsnachweis nicht aufgeführt.
Im Internet kann sie unter telefonseelsorge.de kontaktiert werden.
Informationen zu Hilfsangeboten und Selbsthilfegruppen finden sich auf suizidprophylaxe.de, der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

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Sendung: hr-iNFO, 18.01.2022, 13.50 Uhr

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